Bericht: Diskussion mit Ben Segenreich über die angespannte innenpolitische Lage in Israel

Noch keine Entwarnung, aber doch etwas Beruhigung

Diskussion mit Ben Segenreich über die angespannte innenpolitische Lage in Israel

90 Anmeldungen gab es, viel für eine nur per Videokonferenz stattfindende Veranstaltung. Das große Interesse der Mitglieder der DIG Berlin und Brandenburg an dem Gespräch mit dem österreich-israelischen Journalisten Ben Segenreich am 28. März zeigte, wie beunruhigt man auch hierzulande über die innenpolitische Lage in Israel ist.

Doch Segenreich, der in Israel lebt und die dortige Politik seit vielen Jahren professionell beobachtet, die meiste Zeit für den österreichischen ORF, konnte sowohl aufklären als auch etwas beruhigen. Wenn man seine Ausführungen in einem Satz zusammenfassen soll, dann würde er wohl lauten: Nichts wird in Israel so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Das gilt auch für einige der hierzulande mit besonders großem Erschrecken aufgenommenen Forderungen aus Kreisen der kleinen radikalen Regierungsparteien, nach denen einige Zuhörer fragten. Etwa zur Einführung der Todesstrafe. „Das wird nicht kommen“, war sich Segenreich sicher. Nach einem Verbot der Gay-Parade in Tel Aviv. „Wenn die verboten werden soll, würden wir alle hingehen und keiner könnte uns aufhalten“. Oder die verlangte Trennung von Geschlechtern in Bussen. „Von den Extremisten werden viele Dinge in den Raum gestellt, aber das ist in Israel alles nicht machbar“, betonte der Referent. Und die von Minister Ben Gwirverlangte eigene Nationalgarde werde schon am fehlenden Geld scheitern.

Auch die Justizreform, die Anlass und Hauptthema der Veranstaltung war, kommt so nicht. Als die Mitglieder eingeladen wurden, beherrschten noch die Massendemonstrationen in Tel Aviv und anderswo die Nachrichten, ebenso die Kritik befreundeter ausländischer Regierungen, die sich Premierminister Netanjahu bei seinen Reisen anhören musste. Auch von Kanzler Olaf Scholz in Berlin. Als die Veranstaltung unter Leitung von Jochen Feilcke, Vorsitzender der DIG Berlin und Brandenburg, dann stattfand, war die Lage schon eine ganz andere.  Netanjahu hatte das Vorhaben kurz zuvor „suspendiert“. Und just zu der Stunde, als sich die DIG-Mitglieder an ihren Computern versammelten, kamen in den Räumen von Staatspräsident Herzog in Jerusalem zum ersten Mal Verhandlungsdelegationen von Regierung und Opposition zusammen, um über das Thema zu reden.

Vorausgegangen war, schilderte Segenreich, die offene Kritik von Verteidigungsminister Galant an dem Vorhaben, ein bisher beispielloser Vorgang. Vor allem auch, weil Galant darauf hingewiesen hatte, dass der Streit auf die Armee übergreife und Israels Sicherheit gefährde. „Der Streit hat Israel geschwächt, und in dieser Region darf man sich keine Schwäche leisten“, fand auch Segenreich. Galants daraufhin angekündigte Entlassung durch Netanjahu habe dann zu einer wahren Eruption der Proteste zu Anfang der Woche geführt, schilderte der Referent. Bis hin zu einem Generalstreik. Nun sei Netanjahu erheblich geschwächt, „und aus der Justizreform ist die Luft raus“.

Segenreich nannte die überwiegend gewaltfreien Massenproteste „ein großartiges Zeugnis gelebter Demokratie“. Die sei in Israel keineswegs am Ende, wie man oft in Europa berichte, erst recht stehe kein Bürgerkrieg bevor. Es stimme auch nicht die Behauptung, dass es in Israel einen Rechtsruck gegeben habe. Manche Darstellungen in Europa seien Zerrbilder. Und, so wurde aus dem Zuhörerkreis eingeworfen, sie werden als neue Vorwände für Antisemitismus genutzt.

Auch die Justizreform selbst muss wohl differenzierter betrachtet werden, als es hierzulande meistens geschieht. Um das Oberste Gericht gebe es tatsächlich Probleme, und es sei falsch, die Reform so darzustellen, als würde in Deutschland das Bundesverfassungsgericht durch die Politik an die Kette gelegt, schilderte Segenreich. Die Richter in Israel hätten sich mit der Zeit immer mehr Entscheidungskompetenzen genommen und griffen sogar in Details des Regierungshandelns ein. Das sei woanders undenkbar. Ein Grund dafür sei das Fehlen einer vollständigen Verfassung. Auch sei das Verfahren zur Benennung neuer Richter fragwürdig, weil die amtierenden 15 Richter darauf einen viel zu großen Einfluss hätten. Eine Reform sei daher seit langem überfällig. „Auch ich bin dafür“, sagte Segenreich. „Aber ich möchte nicht, dass sie von dieser Regierung allein formuliert wird, sondern im Konsens“. Dazu bestehe jetzt mit den Verhandlungen eine Chance. Israel sei und bleibe ein vielfältiges Land, sagte Segenreich. „Man ist dazu verurteilt, miteinander zu leben“.

 

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