Israel fürchtet die Macht der Nahost-Revolten

Wenden sich die Nahost-Revolten nun gegen Israel? Das Land ist von den Grenzstürmungen schockiert – und fürchtet sich vor weiteren Massenaufmärschen.

Kaum war der erste Schock verwunden, begannen die Schuldzuweisungen. Wie konnten rund 70 in Syrien lebende Palästinenser am Sonntag kurzerhand die Grenze zu den von Israel seit 1967 besetzten Golanhöhen überqueren, fragten die israelischen Medien am Tag danach.

„Die Angst vor dem Frieden“

Die Armeeführung verwies auf die mangelhafte Arbeit des Militärgeheimdienstes. Dort wiederum wollte man entsprechende Warnungen ausgesprochen haben, nur seien die von Befehlshabern in den Wind geschlagen worden, die unbeirrbar an den Dogmen von vorgestern festhielten.

Journalisten wunderten sich, weshalb ausgerechnet an einem Tag, für den seit Wochen Auseinandersetzungen vorhergesagt wurden, der Polizeichef, der Generalstabschef, der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister, der Sprecher der Armee und der Chef des Inlandsgeheimdienstes mit der Vereidigung des neuen Chefs des Inlandsgeheimdienstes beschäftigt waren.

Anscheinen sei niemand auf die Idee gekommen, die Führung des Landes könne am Nakba-Tag, wo die Palästinenser ihrer Flucht und Vertreibung im Krieg von 1948 gedenken, wichtigere Dinge zu tun haben. Schließlich räumte sogar Generalstabschef Benny Ganz Fehler ein und befahl eine Untersuchung des Vorfalls.

Gewalt und Terrorgefahr am Tag der „Nakba“

Schon jetzt ist klar: Die israelische Armee hatte nicht mit Versuchen gerechnet, von Syrien und dem Libanon aus nach Israel einzudringen. Gerade mal 30 bis 40 Soldaten sollen am Sonntag auf den Golanhöhen stationiert gewesen sein, die langfristig geplante Demonstration von etwa 1000 Palästinensern auf der syrischen Seite der Grenze wurde von fünf Soldaten in zwei Jeeps beobachtet. Tränengas, Wasserwerfer oder andere unblutige Mittel zur Auflösung von Menschenansammlungen standen nicht zu ihrer Verfügung.

Die Soldaten durften nicht ohne den ausdrücklichen Befehl ihres Kommandanten das Feuer eröffnen. Erst als die über die Grenze stürmenden Demonstranten die Jeeps umzingelt hatten, gab der Befehlshaber den Befehl, auf die Beine der Eindringlinge zu schießen.

„Situation außer Kontrolle“

„Mir wurde klar, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte und dass wir etwas tun mussten, bevor 10.000 Eindringlinge sich auf den Weg nach Madschdal Scharms machten“, sagte der durch einen schweren Stein am Kopf verwundete Oberst am Sonntagabend im Fernsehen.

Daraufhin seien alle Demonstranten auf der syrischen Seite der Grenze geflohen. Jene 70 Palästinenser, die es bereits auf die israelische Seite geschafft hatten, durften von der Armee ungestört einige Stunden auf dem Marktplatz mit syrischen Flaggen und Bildern von Syriens Präsident Baschar al-Assad demonstrieren, ehe sie von den drusischen Dorfältesten zu Bussen geleitet wurden, die sie zur Grenze brachten.

Libanesische Armee habe ebenfalls das Feuer eröffnet

Ohne die Zurückhaltung der Soldaten hätte die Angelegenheit also auch ganz anders ausgehen können. So ist es durchaus glaubwürdig, wenn die Armee nach einer ersten Untersuchung zu dem Schluss kommt, für die nach widersprüchlichen Angaben drei bis elf Toten bei einem weiteren Zwischenfall an der libanesischen Grenze sei zumindest zum Teil die libanesische Armee verantwortlich, die Augenzeugen zufolge ebenfalls das Feuer eröffnet hatte.

Doch mehr noch als die Schuldfrage bereitet in Israel die Aussicht Sorgen, der Marsch nach Madschdal Scharms könne zum Präzedenzfall werden.

Das Land habe ein grundlegendes Problem, schreibt Alex Fischmann in der Zeitung „Yedioth Aharonoth“: „Abgesehen von Abschreckung hat es keine Möglichkeit zu verhindern, wenn Zehn- oder Hunderttausende gut organisierter Palästinenser, die das Rückkehrrecht (für die palästinensischen Flüchtlinge) mit ihren eigenen Füßen verwirklichen wollen, die Grenze überqueren.“

Auch das Konkurrenzblatt „Ma’ariv“ fürchtet, man habe „nur einen Vorgeschmack auf das bekommen, was wahrscheinlich im September“ geschehen werde, sollten die Palästinenser im Westjordanland dann tatsächlich einseitig einen Staat ausrufen.

Angst vor weiteren Massenaufmärschen

Und die auflagenstarke Gratiszeitung „Israel ha-Jom“ fürchtet die Entstehung eines „neuen palästinensischen Mythos“: „Sie werden sagen, dass einige Hundert Flüchtlinge, nur mit Flaggen bewaffnet, die Minenfelder und Grenzbefestigungen überquerten, nach Israel eindrangen und dort Erfolg hatten, wo arabische Armeen und Terrororganisationen versagt haben“, schreibt die Zeitung. Die Armee müsse sofort damit beginnen, sich auf weitere Massenaufmärsche in näherer Zukunft vorzubereiten.

Tatsächlich scheint die Erkenntnis, dass sich mit überwiegend gewaltlosem Widerstand durchaus etwas erreichen lässt, auch ein Resultat der Revolutionswelle in der arabischen Welt zu sein.

Dabei sieht es momentan nicht so aus, als ob die Wucht dieser Revolutionen und der aufgestaute Volkszorn sich nun gegen Israel wenden würde: Die Demonstranten sowohl an der syrischen als auch an der libanesischen Grenze waren Palästinenser.

Proteste vor israelischer Botschaft in Ägypten

Gewiss ist es richtig, dass es ohne das Einverständnis der Regierung in Damaskus kaum zu den Protesten gekommen wäre, sollte Präsident Assad aber gehofft haben, er könne die Aufmerksamkeit von der brutalen Unterdrückung der Reformbewegung in seinem Land ablenken, dann wurde er enttäuscht: Die arabischen Nachrichtensender wie al-Dschasira und al-Arabija berichteten am Sonntag nämlich ebenso ausführlich über die Entwicklungen in Syrien, Bahrain und Libyen wie an anderen Tagen.

Und während es an Israels Grenzen am Montag ruhig blieb, gingen ägyptische Sicherheitskräfte vor der israelischen Botschaft in Kairo mit Tränengas und Gummigeschossen gegen Tausende Demonstranten vor, die versuchten, das Gebäude zu stürmen. 50 verletzte Demonstranten mussten im Krankenhaus behandelt werden, etwa 150 wurden festgenommen.

Lesen Sie einen Hintergrundartikel von Michael Borgstede bei WELT ONLINE vom 16.05.2011.

Zum gleichen Thema auch die Blogseite von Richard Herzinger.

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