Gastbeitrag zum 27. Januar in der FR: 70 Jahre – ein Menschenleben

Die große Mehrheit der Zeugen und Opfer der Shoa ist nicht mehr unter uns. Jedes Mal, wenn wir an einen Namen erinnern, ist das eine Ehrerweisung.

Emmanuel Nahshon in der Frankfurter Rundschau vom 27.01.2012.

Nur eine Woche liegt zwischen dem Tag, an dem wir in diesem Jahr daran erinnerten, dass vor 70 Jahren die Wannsee-Konferenz stattfand, bei der die Vernichtung der Juden Europas beschlossen und geplant wurde, und dem Internationalen Holocaust-Gedenktag. Es besteht eine direkte Verbindung zwischen der Entscheidung, das jüdische Volk zu vernichten, zur Todesfabrik Auschwitz, die am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde. Die düsteren Schatten der Gaskammern und des Krematoriums reichen bis zu den friedlichen Ufern des Wannsees und tauchen sie in eine ewige Dunkelheit.

In den Jahren 2003 bis 2015 gedenken wir einer Reihe von Ereignissen, die den Titel „70 Jahre…“ tragen und damit den Zeitraum abbilden, der seit den zwölf dunklen Jahren zwischen 1933 und 1945 bis heute vergangen ist.

Im Judentum hat dieser Zeitraum von 70 Jahren eine besondere Bedeutung. Er unterscheidet sich von allen anderen Zeiträumen, seien sie kürzer oder länger. 70 Jahre stehen laut unserer historischen Überlieferung für „ein Menschenleben“. Der Ursprung dieser Überlieferung findet sich in der Lebensgeschichte eines unser vielseitigsten und talentiertesten Könige: König David. Er lebte 70 Jahre lang – und dies wurde folglich als der Zeitraum angesehen, in dem ein Mensch ein vollständiges Leben gelebt hat.

Ein Menschenleben ist vergangen seit den dunkelsten Stunden in der Geschichte der Menschheit. Die große Mehrheit der Zeugen und der Opfer der Shoa ist nicht mehr unter uns. Schon bald, in einigen Jahren, wird niemand mehr sagen können „Ich war dort“, „Ich habe es gesehen“. Diese Tatsache lädt eine immense Verantwortung auf die Schultern der jüngeren Generationen – in Israel, in Deutschland und anderswo auf der Welt. Diese gemeinsame Verantwortung kann sich auf vielfältige Art und Weise ausdrücken – in Zeremonien, in Schulprojekten, bei der Verlegung von Stolpersteinen, bei individuellen Gedenkveranstaltungen, in akademischen Studien sowie in intellektuellen, künstlerischen oder inter-religiösen Projekten. Respekt und Dialog sollten der gemeinsame Nenner all dieser Taten der Erinnerung sein.

Ein Menschenleben ist vergangen, aber es ist niemals zu spät, individuelle Geschichten aus dem schwarzen Loch zu „retten“, in das sie von den bösartigen Masterminds der Wannseekonferenz und der Vernichtungslager geworfen wurden. Jede persönliche Geschichte, jedes individuelle Gedenken ist ein kleiner Sieg über diejenigen, die es darauf abgesehen hatten, unsere physische, moralische, kulturelle und religiöse Identität – unsere Existenz als menschliche Wesen – zu vernichten.

Jedes Mal, wenn wir an einen Namen erinnern und ihn laut aussprechen, ist das eine Ehrerweisung. Wichtig ist dies nicht ausschließlich für das ermordete Opfer, noch wichtiger ist es vielleicht für uns selbst – für uns Juden als Nachkommen der Ermordeten, für die Deutschen und auch für die schwere Verantwortung, die wir gemeinsam tragen.

Einige wenige Deutsche haben in jenen dunklen Jahren den Mut gefunden, sich anders zu verhalten als die große Mehrheit ihrer Mitbürger. Sie riskierten ihr Leben und das ihrer Familien, indem sie Juden in ihren Häusern versteckten, sie schützten und mit Lebensmitteln versorgten und manchmal gar mit falschen Identitäten. Sie haben den Lauf der Dinge nicht verändert, doch wir in Israel ehren sie als Helden – sie sind die „Gerechten unter den Völkern“.

Es ist interessant, dass die meisten von ihnen einfache, bescheidene Menschen waren, nicht reich, berühmt oder mächtig. Sie handelten entsprechend ihrer tiefen moralischen Überzeugung. Sie betrachteten sich selbst nicht als außergewöhnliche Menschen – und doch sind sie es. In Zeiten des moralischen Bankrotts, des Fanatismus und des Hasses wird die Verteidigung fundamentaler menschlicher Werte zur Ausnahme. Diese bescheidenen Helden werden in Israel und in Deutschland geehrt und sollten als Vorbilder für die jungen Generationen dienen.

Ein Menschenleben ist vergangen. Israel und Deutschland sind Freunde und Verbündete. Wir gestalten gemeinsam die Zukunft. Wir kooperieren in der Wissenschaft und Technologie. Wir kreieren gemeinsam Kultur und Kunst. Wir teilen dieselben Werte. Wir sind uns in vielem einig. Manchmal gehen unsere Meinungen auseinander. Am wichtigsten ist, dass wir die offenen Wunden der Vergangenheit respektieren und darauf basierend einen Dialog führen, der einen wichtigen Teil unserer Identitäten ausmacht. Dies ist aus meiner Sicht unsere vordringlichste Aufgabe als israelische Diplomaten. Das „Grab in den Wolken“, in dem unsere Brüder und Schwestern liegen, existiert noch immer. Auch der stärkste Wind des Universums wird es nicht davon wehen. Es ist Teil unserer selbst, wenn wir mit offenen Armen, in Freundschaft und voller Vertrauen auf unsere deutschen Freunde zugehen.

Emmanuel Nahshon ist Gesandter und Geschäftsträger der Botschaft Israels in Deutschland.


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