Die Transformation des Interesses an den Juden

Mit Henryk M. Broder, Autor des Buches „Der ewige Antisemit“, habe ich mich über den Antisemitismus der Linkspartei unterhalten. Anlass war die Verschwörungstheorie der Bundestagsabgeordneten Inge Höger, Israel könnte hinter dem Mord an Vittorio Arrigoni stecken.

Jan-Philipp Hein: Herr Broder, im Bundestag sitzt für die Linke eine Frau namens Inge Höger, die gerade von einer „Unsicherheit über den Mörder“ des sogenannten Friedensaktivisten Vittorio Arrigoni spricht. Es gebe „begründete Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um die Tat einer salafitischen Gruppe handelt“. Frau Höger vermengt diesen Mord mit dem an dem Schauspieler Juliano Mer-Khamis und fragt: „Wer profitiert von diesen furchtbaren Verbrechen?“ Jetzt seien zwei der für Israel gefährlichsten, weil engagiertesten, bekanntesten und renommiertesten Aktivisten ausgeschaltet. Was halten Sie von dieser Kriminalistik?
Henryk M. Broder: Was Frau Höger da treibt, ist keine Kriminalistik. Das ist die Zurschaustellung ihrer paranoiden Vorurteilsstruktur. Es ist ein klassisches Kennzeichen des Antisemitismus, dass Juden für alles verantwortlich gemacht werden, vom Mord an Jesus bis zur russischen Revolution. Für die Spekulationen von Frau Höger gibt es nicht den Hauch eines Belegs. Es wäre deshalb obszön, mit ihr auf der faktischen Ebene zu diskutieren und zu versuchen, sie zu widerlegen. Da könnten Sie jetzt auch in diesen Tagen versuchen, die antisemitische Legende zu widerlegen, dass Juden zu Ostern Christenkinder schlachteten, um ihr Blut zu verzehren. Die Technik von Frau Höger ist, zu spekulieren, etwas in den Raum zu stellen und zu sagen, möglich wäre es ja. Möglich ist auch, dass Frau Höger vollkommen durchgeknallt ist.

Inge Höger gehörte zu den Teilnehmern der sogenannten Friedensflottille, die vergangenes Jahr die Blockade des Gazastreifens durchbrechen wollte. Mit dabei waren auch ihre Fraktionskollegin Annette Groth und der ehemalige Linken-Abgeordnete Norman Paech. Woher kommt dieses intensive Interesse an Israel?
Das ist die Transformation des intensiven Interesses an den Juden, das früher das tägliche Brot der Antisemiten war. Nun gibt es keinen Antisemitismus mehr in der klassischen Form, weil das nach Auschwitz unmöglich ist. Wer heute ein Antisemit ist, würde Auschwitz nachträglich legitimieren und sich außerhalb eines gesellschaftlichen Konsens stellen. Nur können sie ein Ressentiment nicht einfach abschalten wie ein Atomkraftwerk. Es wirkt weiter, es hält seine Träger weiterhin auf Trab. Als aseptischer Ausweg bleibt der Antizionismus. Und dabei befriedigt er dasselbe Bedürfnis. Der Antisemit oder Antizionist ist hinter den Juden her wie der Teufel hinter der Seele einer Jungfrau. Den Antisemiten waren die Juden die, die mit ihrem Kapital wucherten, den Frieden gefährdeten, Kinder schlachteten, als Konservative dem Fortschritt im Weg standen oder eine Gefahr für die Verhältnisse waren, weil sie Revolutionäre waren. Die Juden wurden nicht für das kritisiert, was sie taten, sondern dafür, dass es sie gab. Alle Vorwürfe dienten als Entschuldigung für die Triebe der Antisemiten. Und genau das macht Frau Höger. Sie ist eine lupenreine Antisemitin, die sich hinter dem Paravent des Antizionismus versteckt. Das ändert nichts daran, dass ihre Argumentationsweise antisemitisch ist und dass ihre mentale Struktur antisemitisch ist. Sie bekommt ja auch ihre Gratifikation, die alle Antisemiten bekommen: Die Juden beschäftigen sich mit ihr. Natürlich wäre es das Gesündeste, diese kranke Person entweder irgendwo einzuweisen oder sich selbst zu überlassen. Aber weil sie auf der „Mavi Marmara“ mitgefahren ist, es vielleicht wieder tun wird und weil sie als Abgeordnete in der Tat eine gewisse Relevanz hat, kann man sie nicht unwidersprochen gewähren lassen.

In Bremen hat die Linkspartei neulich eine Boykottaktion gegen israelische Waren vor einem Supermarkt unterstützt, indem sie auf ihrer Webseite permanent unkritisch und sogar zustimmend darüber berichtete. Die Boykotteure traten mit den sogenannten Sandwichplakaten auf, die dereinst auch die SA vor jüdischen Geschäften nutzte. Warum werden immer wieder Linke – wir ignorieren jetzt mal die NPD – in diesem Zusammenhang auffällig?
Der Antisemitismus beschränkt sich in seiner antizionistischen Ausprägung nicht nur auf die Linkspartei. Er ist in anderen Gruppen genauso virulent. Bei der Linken ist es so deutlich, weil sie glaubt, sie sei historisch unbelastet. Es gab in den christlichen Parteien, in den liberalen Parteien und bis hinein in die Sozialdemokratie immer antisemitische Elemente und Rückkopplungen. Die einzige Partei, die bis heute glaubt, dass sie davon unberührt geblieben sei – was nicht stimmt – ist die Linke beziehungsweise die kommunistische Bewegung. Zwar wollte man einerseits das Judentum – unter Bezugnahme auf Karl Marx‘ berühmte Schrift „Zur Judenfrage“ – beseitigen, das aber andererseits ja nicht mit Gewalt, sondern durch Assimilation. Deswegen hat die Linke ein sauberes Gewissen, dabei ist sie genauso kontaminiert wie der Rest der Gesellschaft. Und: Linke, nicht nur die Partei, sind 89/90 enteiert worden. Die Vision der sozialistischen Zukunft ist zusammengebrochen. Von denen will keiner mehr was wissen. Mit Gaddafi geht es zu Ende, China hat mit dem linken Gesocks auch nichts mehr zu tun. Der Islam und die armen und unterdrückten Araber sind jetzt an die Stelle des Proletariats getreten, um das sich die Linke immer meinte kümmern zu müssen. Und diese armen und unterdrückten Moslems haben jetzt, obwohl sie es gar nicht wollten, neue Fürsprecher gefunden. Sie sind nun das Mündel und die Linken der Vormund. Um ihre eigene Impotenz zu kaschieren, brauchte Linke immer jemanden, den sie bevormunden können. Jetzt sind halt die armen Araber dran, die man vor solchen Gönnern und Geistern eigentlich in Schutz nehmen müsste.

Sie sind jetzt beim linken Lager. Nochmal zur Partei: Auffällig ist, dass dieser Israelfetish in den Westverbänden deutlich ausgeprägter ist. Warum?
Ich nehme an, dass im Osten die Parteidisziplin ausgeprägter ist und das Gysi-Wort „Ihr dürft keine Antisemiten sein“ dort ernster genommen wird. Und: Die Westverbände setzen sich aus dem Chaotentum der gescheiterten linken Massenbewegungen in Westdeutschland zusammen, von KB über KBW über KPDAO und weiß ich was. Für die war der Antisemitismus das verbindende Element. Die haben sich immer bis aufs Messer bekriegt. Aber in einem waren sie sich einig: im Hass auf Israel. Ich erinnere mich an mein Erweckungserlebnis. Bei der Entführung der Air France-Maschine nach Entebbe, als deutsche Terroristen Palästinensern halfen, jüdische Passagiere zu selektieren, haben sich praktisch alle Gruppen links der Jusos nicht darüber aufgeregt, sondern über eine flagrante Verletzung der Souveränität Ugandas durch die Befreiungsaktion der Israelis. Es sind sogar Beileidstelegramme an Idi Amin geschrieben worden. Bei den Rechten ist es mit dem Antisemitismus übrigens ähnlich. Rechte, Rechtsradikale oder Nationaldeutsche konnten sich auf nichts als den Judenhass einigen. Da sind sowieso wenig Unterschiede zwischen den Radikalen beider Lager. Horst Mahler hat ja vorgelebt, wie man, ohne seine Einstellung wesentlich zu ändern, aus einem Linksradikalen einen Rechtsradikalen machen kann. Wir reden hier über in der Wolle gefärbte deutsche Nationalisten mit einer braunen Grundierung, die leicht rot übertüncht wurde.

In der Partei „Die Linke“ gibt es durchaus Stimmen gegen diese Umtriebe. Es gibt einen „Bundesarbeitskreis Shalom“ der Linksjugend „Solid“, es gibt die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, die Abgeordnete Katja Kipping oder den Fraktionschef in Thüringen, Bodo Ramelow. Die weisen mehr oder weniger deutlich auf die Entwicklungen hin.
Oh ja. Ich habe mal mit Dietmar Bartsch darüber gesprochen. Der sagte, ein großer Teil der Partei sei antisemitisch kontaminiert. Aber würde er die alle rausschmeißen, bliebe nur noch ein Gerippe. Die Situation ist doch gerade die, dass wir Good Cops und Bad Cops haben. Das ist ein altes Spiel. Die Bad Cops sind Frau Höger, Frau Groth und Paech und die Good Cops sind Katja Kipping – eine kluge und angenehme Person, die ich für glaubwürdig halte – oder Petra Pau und Bodo Ramelow. Die meinen es mit ihrem Widerstand in die Partei hinein auch sehr ernst. Aber in der Gesamtstrategie der Linken gibt es wohl eine Arbeitsteilung: Die einen vertreten antisemitische Positionen, die anderen bekämpfen sie. Aber die Good Cops müssten sich langsam die Frage stellen, ob man das Pack rauswirft oder mit ihm argumentiert. Das kann man nicht mit Antisemiten. Ich rede auch nicht mit Pädophilen über die richtige Art sexueller Kommunikation.

Hat das Thema das Potenzial, die Partei zu spalten?
Ich hoffe es.

Blogseite von Jan Philipp Hein, Eintrag vom 22. April 2011
Siehe auch den „Artikel Alkoholismus und Antisemitismus haben viel gemein“ in der WELT vom 22.04.2011

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