Shimon Peres: Der Jugend die Zukunft

Weltweit rebellieren junge Menschen. Der 88-jährige israelische Politiker Schimon Peres wünscht ihnen allen, besonders in der arabischen Welt, ein Leben in Freiheit und Wohlstand

Mit meinen nun beinahe 90 Lebensjahren kann ich mich an keine Zeit erinnern, in der die Vergangenheit für die politische Entscheidungsfindung so unerheblich war wie heute. Keine der bedeutenden Entwicklungen der Gegenwart wurde von irgendjemandem vorhergesehen. Die einzige Gewissheit besteht darin, dass die Zukunft von wissenschaftlichem Fortschritt und Innovation bestimmt sein wird. Daher nimmt die traditionelle Macht von Staaten und Staatenlenkern ab. In der globalisierten Wirtschaft von heute üben Erneuerer den größten Einfluss aus. Die globalisierte Wirtschaft betrifft alle Staaten, und doch kann kein einzelner Staat das Ergebnis bestimmen, weil Wissenschaft und Technologie grenzenlos sind. Global agierende Unternehmen wollen auf der ganzen Welt ihren Geschäften nachgehen, wodurch einerseits zwar die Souveränität leidet, aber andererseits Rassismus und Vorurteile sowie in signifikanter Weise auch der Nationalismus geschwächt werden.

Aufgrund dieses Wandels liegen die Geschicke dieser Welt nunmehr in den Händen einer jüngeren Generation. Sie ist technologisch versierter als ihre Eltern und untereinander durch soziale Netzwerke verbunden, die Landesgrenzen, Sprachbarrieren oder unterschiedliche Regierungsformen überwinden. Die jungen Gründer von Facebook und Google üben größeren globalen Einfluss aus als viele Staatsoberhäupter und Generäle. Diese jungen Menschen bilden auch die Speerspitze sich formierender politischer Protestbewegungen. Der „arabische Frühling“, die Zeltdemonstrationen in Israel, „Occupy Wall Street“ und die Proteste in Russland markieren keinen Kampf der Kulturen, sondern ein Gefecht der Generationen.

Israel hat auf den Willen der Jungen positiv reagiert, kann und soll sich jedoch nicht in die Ereignisse der arabischen Welt einmischen. Wir sind im Herzen bei den rebellierenden Jungen und ihrer legitimen Sehnsucht nach Freiheit und Grundrechten, die es ihnen ermöglichen sollen, sich Gehör zu verschaffen, ihre politische Führung zu wählen und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Israelis warten auf den Tag, an dem ihr Land nicht mehr die einzige Demokratie in der Region sein wird, denn die Existenz als Insel des Wohlstands inmitten eines Meeres von Armut ist unnatürlich. Doch es besteht die Sorge, dass die politisch gut organisierten Extremisten versuchen, bei Wahlen die Kontrolle über weniger gut organisierte Liberale zu gewinnen und so Frieden und Stabilität verhindern.

Radikale Fundamentalisten können für die grundlegenden Probleme der Region keine wirklichen Lösungen anbieten. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umwälzungen bedrohen ihre Lebensweise, zu der auch die Diskriminierung der Frauen und ein Verbot moderner Bildung gehören.

Israel kann anderen als Beispiel dienen, wenn es darum geht, wirtschaftlichen Wohlstand und gesellschaftliche Freiheit zu erlangen, denn sein Erfolg liegt in der Tatsache begründet, dass das Land zu Beginn absolut nichts hatte. Bei unserer Rückkehr in die Heimat waren wir zwar reich an Geschichte, aber arm an natürlichen Ressourcen. Wir konnten lediglich auf unser Humankapital zurückgreifen. Daher investierten wir in Bildung und Wissenschaft. Aus diesem Grund verfügen wir heute pro Kopf über den höchsten Prozentsatz an Wissenschaftlern und Patenten. Ungefähr 95 Prozent unserer Landwirtschaft beruht auf Hochtechnologie. Wir verbrauchen weniger Wasser und haben dennoch höhere Ernteerträge pro Quadratmeter Anbaufläche als jedes andere Land der Welt.

Was Israel gelingt, können auch andere schaffen. Wir sind gerne bereit, unsere Hilfe überall dort anzubieten, wo dies gewünscht wird. Gemeinsam und in Frieden mit unseren Nachbarn können wir eine Region der Hoffnung, der Entwicklung und des Erfolgs gestalten. Vor allem müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um den Konflikt mit den Palästinensern zu beenden. Israel wurde nicht geschaffen, um ein anderes Volk zu beherrschen, und darin liegt auch nicht Israels Bestimmung. Wir sind aufrichtig an der Schaffung eines palästinensischen Staates interessiert, der friedlich und Seite an Seite mit Israel – dem demokratischen Staat des jüdischen Volkes – existiert. Für uns ist Frieden sowohl ein moralischer Imperativ als auch eine nationale Sicherheitsstrategie, denn die Lösung des Konflikts würde helfen, die Region durch Neutralisierung der Extremisten zu stabilisieren.

Besonders der Iran ist eine Quelle moralischer Verkommenheit. Man zerschlägt legitime Proteste der eigenen Bürger und arbeitet gegen die tapferen Syrer, die momentan für ihre Freiheit kämpfen. Außerdem bedient sich der Iran mehrerer Stellvertreter, um Terror gegen moderate Kräfte in der Palästinensischen Behörde, im Libanon und dem Irak anzuzetteln. Gelingt es dem Iran, sich Atomwaffen anzueignen, könnten die Führer des Landes damit den Nahen und Mittleren Osten erschüttern und noch mehr Extremismus und Gewalt schüren. Israel wird sich verteidigen, wenn der Iran weiterhin die Zerstörung Israels fordert. Doch nicht nur Israel ist bedroht. Der Iran ist eine Gefahr für den Frieden und die Stabilität auf der ganzen Welt. Die Demokratien dieser Welt haben erklärt, dass sie es dem Iran nicht gestatten werden, in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen. Es ist ihre Pflicht, diesem Bekenntnis nachzukommen, bevor das nicht mehr möglich ist.

Über diese kurzfristigen Herausforderungen hinaus haben wir alle die Pflicht, die Art und Weise, wie wir unsere Kinder auf den Umgang mit der Welt von heute vorbereiten, grundlegend zu ändern. Zu einer Zeit, da die Vergangenheit für die Prognose der Zukunft irrelevant geworden ist, muss Bildung allen Kindern die Möglichkeit bieten, ihr Potenzial auszuschöpfen. Die Lehrer von heute sollten unsere Kinder zu Kreativität und Innovation motivieren. Selbstentfaltung ist ebenso wichtig wie freie Meinungsäußerung

Ich schreibe diesen Artikel mit 88 Jahren, aber nicht, weil ich aus Erfahrung gelernt habe. Im Gegenteil: Erfahrung ist überbewertet und schränkt vielfach den Mut ein, der nötig ist, um sich der Zukunft zu stellen und eine beispiellose neue Welt zu schaffen. Die Zukunft ist schon da. Der Blick zurück hat keinen Sinn.

Mehr bei WELT Online vom 16.01.2012

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